Risikotrends 2024: „Wir dürfen die Debattenkultur nicht verlieren“

Der Blick auf die Risikolandkarte zeigt: Die Prioritäten verschieben sich. Non-Financial-Risks rücken stärker ins Bewusstsein und bestimmen die Agenda im Risikomanagement. Es sind vor allem die geopolitischen Risiken, die sich auf allen Ebenen niederschlagen. Aber auch ESG-, Cyber- und Reputationsrisiken gewinnen an Bedeutung. FIRM-CEO Gerold Grasshoff spricht im Interview über die Risikotrends 2024 und über die Frage, warum der Streit ums bessere Argument auch im Risikomanagement nie fehlen sollte.

Herr Grasshoff, wenn Sie eine Rangliste der wichtigsten Risiken 2024 aufstellen: Was steht an erster Stelle?

Die größten Risiken gehen nach meiner Einschätzung derzeit von der geopolitischen Entwicklung aus. Das ist ein sehr weites Thema, weil wir es mit einem Wettstreit zwischen demokratischen und autokratischen Systemen zu tun haben. Wir beobachten die Spannungen entlang der alten Ost-West-Konfliktline schon länger, aber wir spüren in den letzten Wochen und Monaten eine zunehmende Dynamik. Es gibt immer mehr akute Konfliktherde. Der anhaltende Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Der Schlagabtausch zwischen China und den USA, bei dem es um die Rolle Taiwans und generell um die Vorherrschaft in Asien und auf dem globalen Markt geht. Hinzu kommt die sich zuspitzende Feindschaft zwischen Iran und Israel. Von all diesen Konflikten gehen erhebliche
Risiken aus, für die globale Wirtschaft, für Unternehmen und letztlich auch für Banken, sowohl für global agierende als auch für lokale. Das gilt insbesondere für Deutschland.

Warum sind gerade deutsche Banken betroffen?

Die deutsche Wirtschaft ist in hohem Maße vom Export abhängig. Sanktionen belasten die Unternehmen und sorgen bei Banken für zusätzliche Risiken. Viele Unternehmen sind in einer schwierigen Lage: Wir haben in Deutschland seit 2019 kein Wachstum mehr, der Export gerät immer stärker ins Stocken. Der deutsche Kurs in der Klimapolitik geht zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit und auch der Fachkräftemangel sorgt für weitere Dämpfer. Alles in allem kein gesundes Umfeld für unternehmerisches Wachstum. Die Gefahr steigender Kreditausfälle und Insolvenzen ist akut vorhanden. Das belastet das Kreditportfolio der Banken. Zu diesen finanziellen Risiken kommen immer mehr nicht finanzielle Risiken. So ist beispielsweise die Zahl der Geldwäsche-Prüfungen schon deutlich gestiegen.

Sie haben das Thema Klimapolitik bereits angesprochen. Was sind hier die wesentlichen Treiber im Risikomanagement?

ESG ist für alle Banken ein wichtiges Thema – in der Steuerung der Kreditportfolien, in der Anlagepolitik und ganz generell in der Frage, wie nachhaltig sich eine Bank aufstellt. Aktuell ist der Fokus getrieben durch Politik und Regulierung stark verengt auf Klima und CO2. Generell können wir sagen: In der EU haben wir uns einem regulierungsbasierten Ansatz verschrieben – und der ist für die Banken absolut richtungsweisend. Banken wird die Rolle des Change Agents zuteil, indem sie über Kreditvergabe den Wandlungsprozess zur Klimaneutralität aktiv vorantreiben. In den USA wird dagegen ein Ansatz verfolgt, der auf Innovation setzt. „Carbon Capturing“ ist hier ein wichtiges Stichwort. Eine Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit zur Erreichung der Klimaziele wird hier generell nicht akzeptiert. Das ist ein eklatanter Unterschied zum europäischen Ansatz.

Die Risiken sind damit in der EU anders gelagert als in den USA?

Ja. Natürlich ist Dekarbonisierung wichtig, um dem Klimawandel zu begegnen. Ich würde mir aber wünschen, dass wir – auch mit Blick auf langfristige Daten zur Erderwärmung und die Frage, welcher Anteil davon durch menschlich emittiertes CO2 beigetragen wird – eine Debatte darüber führen, ob der ausschließliche Fokus auf das Ziel der Dekarbonisierung unter Inkaufnahme aller wirtschaftlichen Risiken langfristig zielführend ist. Ich glaube, dass wir neben dem regulatorischen Ansatz mindestens eine stärkere Investitionskultur brauchen und eine bessere Marktbepreisung.

Ist das nicht eine gewagte Position?

Aus Sicht eines Risikomanagers würde ich sagen: Es ist unsere Aufgabe zu prüfen, auf welchen Daten und Annahmen wir Entscheidungen treffen. In jeder Marktwirtschaft gibt es ja externe Effekte wie die Nutzung von Ressourcen, die nicht quantifiziert und integriert sind. Es ist wichtig, diese fair zu bepreisen – und zwar umfassend. Die einseitige Konzentration nur auf das „E“ in ESG und hier nur auf Dekarbonisierung greift meines Erachtens zu kurz. Gleichzeitig können wir nicht alles regulieren. Wir sehen ja, dass allein die CO2-Regulierung unsere Wirtschaftsleistung und die globale Wettbewerbsfähigkeit zunächst schwächen, wenn es für die Transformation kein übergreifendes Zielbild gibt, wenn es bei der politischen Ausgestaltung mangelt und Innovation nicht befördert wird. Dann stecken wir in einem Dilemma.

Was kann Risikomanagement in diesem Kontext leisten?

Die Methodenkompetenz kann in jedem Fall helfen, um valide Szenarien aufzuzeigen und sich die Wirkung von Maßnahmen auf die Wirtschaft insgesamt, auf Unternehmen und letztlich auch auf Banken zu vergegenwärtigen. Diese methodisch faktenbasierte Herangehensweise ist in einer auch ideologisch aufgeheizten Debatte aus meiner Sicht sehr wichtig. Ich würde mir auch wünschen, dass wir unsere Debattenkultur nicht verlieren und keine Tabus setzen, wo ein konstruktiver Austausch wichtig wäre. Denn letztlich werden wir die Transformation nur dann gut bewältigen, wenn wir uns am realistisch Machbaren messen und die Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft nicht überschätzen.

Risikomanagement gewinnt angesichts dieser tiefgreifenden und globalen Risiken an Bedeutung. Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?

Geopolitische und ESG-Risiken stehen auf der Prioritätenliste ganz oben. Wir dürfen aber auch die Gefahr von Cyberrisiken nicht unterschätzen. Hier gibt es immer mehr und größere Schadensfälle. Es gibt viele Einfalltore für Angriffe und hohe kriminelle Energie. Für Unternehmen wie auch für Banken können Cyberangriffe existenzbedrohend werden. Daher müssen wir unseren Fokus 2024 auch auf diese Risiken richten. Gleiches gilt für Reputationsrisiken. Wir haben 2023 gesehen, wie schnell ein Reputationsverlust eine Bank auf die Knie zwingen kann. Soziale Medien wirken hier wie ein Brandbeschleuniger. Daher ist umfassendes Reputationsmanagement heute integraler Bestandteil des modernen Risikomanagements.

Dieses Interview erschien in der 8. Ausgabe des FIRM Newsletter 2023.


Das Frankfurter Institut für Risikomanagement und Regulierung (FIRM) steht für einen engen Austausch zwischen Banken und Verbänden, Initiativen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und dem Land Hessen. Ein Ziel von FIRM ist die Förderung von Lehre und Forschung rund um das Thema Risikomanagement und Regulierung – insbesondere mit Blick auf die Finanzwirtschaft – sowie eine enge Vernetzung. Neue Impulse in der Aus- und Weiterbildung von Risikomanagern setzt FIRM u.a. in Kooperation mit der Goethe Universität.


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