Künstliche Intelligenz verändert das Risikomanagement der Banken tiefgreifend. Nach Jahren der regelbasierten Automatisierung eröffnet der Aufstieg sogenannter Agentic AI-Systeme eine neue Dimension: KI-Modelle, die nicht nur analysieren, sondern eigenständig Entscheidungen vorbereiten, Aufgaben priorisieren und Prozesse koordinieren. Damit verschiebt sich der Fokus von der reaktiven Datenauswertung hin zur proaktiven Steuerung komplexer Risiko- und Compliance-Prozesse.
FIRM beschäftigt sich im Rahmen des Round Tables Artificial Intelligence mit der Frage, wie Finanzinstitute diese Entwicklung gestalten können – mit Blick auf Governance, Datenqualität, Aufsichtsfähigkeit und kulturelle Voraussetzungen. Die zentrale Erkenntnis der bisherigen Diskussionen lautet: Agentic AI ist kein technologischer Hype, sondern ein strategischer Hebel für Resilienz, Effizienz, Innovation und regulatorische Sicherheit.
Was unterscheidet Agentic AI von klassischer AI?
Künstliche Intelligenz (AI) in der Finanzbranche hat sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt – von regelbasierten Modellen hin zu hochkomplexen, generativen Systemen. Während klassische AI primär mit strukturierten Daten arbeitet und für deterministische Aufgaben wie Betrugserkennung oder Bonitätsscoring eingesetzt wird, bezeichnet Agentic AI künstliche Intelligenzsysteme, die Aufgaben autonom ausführen, eigenständige Entscheidungen treffen und sich dynamisch an neue Bedingungen anpassen können:
| Merkmal | Klassische AI | Agentic AI |
| Steuerung | Regelbasiert, vordefinierte Abläufe | Autonom, selbststeuernd, lernend |
| Anpassungsfähigkeit | Funktioniert nur in bekannten Szenarien | Dynamisch, passt sich neuen Daten/Situationen an |
| Entscheidungsfindung | Reaktiv, folgt Vorgaben | Proaktiv, entwickelt eigene Strategien |
| Komplexität | Ideal für spezialisierte Aufgaben | Geeignet für komplexe Prozesse |
| Skalierbarkeit | Stark eingeschränkt, geringer Ressourcenbedarf | Hoch, durch mehrere spezialisierte Agenten, hoher Rechenaufwand, neue Infrastrukturanforderungen |
| Datenformate | Überwiegend strukturierte Daten | Unstrukturierte und strukturierte Daten |
| Ansatz | Regelbasiert, deterministisch | Probabilistisch, kontextbasiert |
| Fähigkeiten | Analyse, Vorhersage | Generierung, Interaktion, Schlussfolgerung |
| Flexibilität | Gering (Modellwechsel nötig bei neuen Tasks) | Hoch (Zero-/Few-Shot Learning, Transfer Learning) |
| Einsatzbereiche | Scoring, Transaktionsprüfung | Agentic AI ermöglicht meiner Meinung nach mehr: Autonom operierende (Teil-)Prozesse im Risikomanagement, z.B Szenarioentwicklung, aktive Portfolioüberwachung, etc. |
| Erklärbarkeit / Überprüfbarkeit (wichtig für Revision, Wirtschafts-Prüfung, Bankaufsicht) | Hoch (regelbasiert, ermöglicht weitestgehende Nachvollziehbarkeit) | Eingeschränkt, Bedarf an Explainability, kontinuierlicher Validierung bzw. Überwachung & Audit-Trails |
Dabei nutzt Agentic AI unter anderem Generative AI, Large Language Models (LLMs) und Foundation Models (FMs), um auf Basis unstrukturierter Daten dynamisch wahrscheinlichkeitsgewichtete Aussagen zu treffen und Inhalte zu generieren, kann diese aber auch mit Klassischen AI-Modellen kombinieren. Damit lassen sich unter anderem Anwendungen wie z. B. Chatbots für die Interaktion mit Kunden entwickeln, die sich für Nutzer „menschlicher“ verhalten als auf klassischen statistischen Methoden beruhende Verfahren.
Agentic AI adressiert strukturelle Schwächen traditioneller Systeme
Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal ist die Fähigkeit von Agentic AI, große Mengen unstrukturierter Informationen – etwa Dokumente, E-Mails oder Gesprächsprotokolle – effektiv zu verarbeiten. Dies eröffnet in der Bankenpraxis neue Möglichkeiten, etwa bei der Automatisierung von Compliance-Prozessen, dem Client Onboarding oder der Interpretation komplexer regulatorischer Anforderungen. Agentic AI übernimmt hier Aufgaben, die bislang menschliches Expertenwissen erforderten – mit 24/7-Verfügbarkeit und kontextsensitiver Interaktion über verschiedenste Kanäle hinweg. Agentic Frameworks erweitern regelbasierte wie Generative AI-Systeme wesentlich, indem sie die Fähigkeiten zur Prozessautomatisierung auf ein neues Level heben. Sie unterstützen autonome AI-Agenten dabei, komplexe Geschäftsprozesse nicht nur sequentiell auszuführen, sondern auch zu koordinieren, anzupassen und sich selbstständig zu optimieren – weit über die Grenzen klassischer Prozessautomatisierung hinaus.
Agentic Frameworks erweitern GenAI zur Prozessautomatisierung
Mit fortschrittlichen Agentic-Konzepten wie z.B. Chain-of-Thought-Prompting, Retrieval- Augmented Generation (RAG) und ReAct (siehe Tabelle) lässt sich Generative AI von einem Tool zur Inhaltserzeugung zu einem Entscheidungsagenten weiterentwickeln. Diese Frameworks ermöglichen komplexe, mehrstufige Aufgaben wie z. B. die Übersetzung von Orderbüchern oder die automatisierte Erstellung und Auditierung regulatorischer Reports – inkl. durch Anwender durchgeführte (Stichproben-)Kontrollen und Explainability als integralen Bestandteil der Systemarchitektur.
| Begriff | Kurzerläuterung | Zugriff auf Wissen | Steuerung | Quelle |
| Chain Thougt Prompting | Das LLM teilt seine Gedankenkette Schritt für Schritt mit, wodurch latente logische/arithmetische Fähigkeiten aktiviert und Antworten nachvollziehbar werden. | Intern – nutzt nur in Modellparametern gespeichertes Wissen | Linear (Denken → Antwort) | Chain-of-Thought Prompting Elicits Reasoning in Large Language Models. Zum Link. |
| Retrieval-Augmented Generation (RAG) | Vor der Antwort ruft ein Retriever passende Dokumentpassagen ab und gibt sie mit der Nutzerfrage an das LLM; reduziert Halluzinationen und hält Wissen aktuell. | Extern – greift auf eine Dokument- oder Vektor-Datenbank zu | Linear (Retrieval → Antwort) | Retrieval-Augemented Generation for Knowledge Intensive NLP Tasks. Zum Link. |
| ReAct Prompting | Kombiniert Reasoning-Spuren mit konkreten Aktionen in einer Schleife; nach jedem Denk-Schritt kann das Modell z.B suchen, rechnen oder einen MCP-Server aufrufen und das Ergebnis im nächsten Schritt nutzen. | Hybrid – intern + über Aktionen extern | Interaktiv (Denken → Handeln) | ReAct: Synergizing Reasoning and Acting in Language Models. Zum Link. |
Konsequenzen für Finanzinstitute
Agentic AI eröffnet Banken vielfältige neue Möglichkeiten, wie individuelle Kundenberatung, automatisiertes Onboarding, effiziente Dokumentenprüfung bis hin zu komplexen strategischen Entscheidungen. Die Systeme steigern Produktivität und Sicherheit, minimieren Fehlerquellen und eröffnen neue Handlungsspielräume für Finanzinstitute. Damit trägt Agentic AI maßgeblich zur Automatisierung, Qualitätssicherung und Innovationskraft im Bankenwesen bei, insbesondre auch im Bereich Risk Management und Compliance. Diese autonomen AI-Systeme agieren eigenständig, lernen kontinuierlich und orchestrieren komplexe Prozesse in Echtzeit, was Effizienz und Sicherheit deutlich steigert.
Risk Management
Agentic AI kann im Prinzip eingesetzt werden, Risiken frühzeitig zu erkennen und selbstständig Gegenmaßnahmen einzuleiten. Beispiele dafür sind:
- Echtzeit-Betrugserkennung durch Analyse großer Datenmengen und sofortige Blockierung auffälliger Transaktionen.
- Automatisierte Kreditwürdigkeitsprüfungen und dynamische Portfolioanpassungen basierend auf laufender Marktbeobachtung.
- Proaktives Risikomanagement durch vorausschauende, datenbasierte Analysen statt nur nachträglicher Auswertung.
Compliance
Im Bereich Compliance nutzt Agentic AI fortlaufende Überwachung und automatisierte Abläufe zur Einhaltung gesetzlicher Vorgaben, wie z. B.:
- Automatisierte Überprüfung und Dokumentation regulatorischer Anforderungen (z. B. KYC -Prozesse, Datenschutz, AI Act).
- Erkennung von Verstößen und Erstellung von Berichten ohne manuelles Eingreifen (z. B. AML -Kontrollen).
- kontinuierliche Anpassung an neue regulatorische Standards und Gesetze.
Besonders im Risk- und Compliance-Kontext können durch Agentic AI sogenannte „virtuelle Rollen“ entstehen – z. B. ein Risk Officer Avatar, der mit umfassender Domänenlogik ausgestattet ist, regulatorische Entwicklungen auswertet, Reports aufbereitet oder Entscheidungsvorlagen generiert. Dabei agiert Agentic AI zunehmend nicht nur als „Tool“, sondern als agentischer Ko-Akteur, eingebettet in Entscheidungsprozesse mit klaren Eskalations- und Kontrollmechanismen.
Für Banken ergeben sich daraus einige strategische Konsequenzen wie z. B. die Möglichkeit von End-to-End-Automatisierung bislang fragmentierter Prozesse, neue Governance- und Kontrollparadigmen bis hin zu Paradigmenwechseln in der Organisationslogik.
Das ganze Positionspaper von Dr. Sebastian Fritz-Morgenthal, Dr. Jochen Papenbrock, und Dr. Mark Währisch ist unter Downloads "Agentic AI in Risk & Compliance: Von Automatisierung zu intelligenter Governance" zu finden.
Das Frankfurter Institut für Risikomanagement und Regulierung (FIRM) steht für einen engen Austausch zwischen Banken und Verbänden, Initiativen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und dem Land Hessen. Ein Ziel von FIRM ist die Förderung von Lehre und Forschung rund um das Thema Risikomanagement und Regulierung – insbesondere mit Blick auf die Finanzwirtschaft – sowie eine enge Vernetzung. Neue Impulse in der Aus- und Weiterbildung von Risikomanagern setzt FIRM u.a. in Kooperation mit der Goethe Universität.